Seiler's Werbeblog

Wir schreiben über Werbung

Michael Kathe: Seiler's Werbeblog

Michael Kathe «Michael rezensiert #9»

Auch diese Woche präsentiert Michael Kathe pointierte Analysen zu internationalen Werbespots. Ring frei für Runde 9!

*** Jose Cuervo: Tomorrow is overrated (Crispin Porter Bogusky)
Schon Fausts Bemerkung „Verweile doch, du bist so schön“ in Goethes gleichnamigem Theaterstück legte offen, dass es zwei Lebenshaltungen gibt, die es auszukosten gilt. Zum einen das ewige Arbeiten und Streben (nach Höherem), zum anderen der süsse Geschmack des Gegenwärtigen. Wie Mephisto will uns die Werbung fast ausschliesslich zu zweiterem verführen. Und Crispin Porter Bogusky finden für den Tequila Jose Cuervo die zugespitzteste Metapher für den Genuss im Hier und Jetzt: was, wenn gleich die Welt untergeht? Dann gibt es nur noch die Gegenwart. Ein perfekte Gegenwart für ein totales Memento Mori: Attraktive Männer und Frauen in einer Bar, die in wenigen Minuten von einem Tornado in Stücke gerissen wird. Ein letzter Song aus der Jukebox („It’s now or never“ von Elvis – es gibt üblere letzte Songs), ein Tequila, ein Tanz. Nach dem Stromausfall gehts am Klavier weiter und alle singen mit. So ist es also, wenn man ganz in der Gegenwart lebt. Tomorrow is overrated.

** GE: Millie Dresselhaus a star
Zum Frauentag: eine Vision, die niemand verneinen wird. Was, wenn nicht Kim Kardashian, Paris Hilton oder Daniela Katzenberger die Medien dominieren würden, sondern wirklich kluge Frauen? Frauen, deren IQ das Doppelte ihrer Körbchengrösse ist? Wie zum Beispiel Mildred Dresselhaus, Professorin für Physik und Elektrotechnik am MIT? Selbst wenn die kindliche Begeisterung und die infantil-mediale Fanauswertung vielleicht dieselben wären wie bei Kardashian & Co., wäre die Welt trotzdem anders. Was uns in diesem Spot mit einer Portion Humor und einer Prise Ungläubigkeit unterhält, sollte uns eigentlich nicht derart befremden. Wäre in einer perfekten Welt eigentlich normal. (Und trotzdem wissen wir: das wird in unserer Welt in nächster Zeit kein Standard.)

Bevor der Werbespot sie nun zur lebenden Physiklegende erhebt, ist Dresselhaus leider am 20. Februar dieses Jahres verstorben. Doch so wie sich Dresselhaus zeitlebens neben ihren Studien für die Förderung von Frauen in Berufen wie der Physik eingesetzt hat, so betreibt – glauben wir dem Spot – GE gezielte Frauenförderung.

*** SEAT Leon Cupra: A race car set free
Droga 5 fällt selbst zum Thema Auto noch Neues ein. Die alte Metapher, wonach Sportwagen wie Raubtiere sind, wird hier überraschend und neu dramatisiert. Der Sportwagen lebt wie ein Gefangener auf seiner Trainingsstrecke, schaut manchmal durch den Zaun und entdeckt … seinen „Bruder“, der gerade um die Ecke schiesst und irgendwo in der Weite der amerikanische Wildnis verschwindet. Freiheit ist nicht auf der Rennstrecke zu haben, sondern auf den restlichen 29,3% Landflächen der Erde. Autowerbung einmal melancholisch – und aus autozentrischer statt anthropozentrischer Perspektive.

** Magnum: The Ceremony
Die Zeiten stehen auf grosse, emotionale Spots. Grosse Gefühle für Lovebrands. Ideen, die früher aussortiert worden wären, weil sie zu wenig überraschend sind, werden jetzt mit viel Aufwand und langem Atem (immer ca. 45“ zu lang), mit Würde und Eleganz inszeniert. Auch der neue Magnum-Spot.

Heute will uns die Glacémarke nicht mehr einfach nur einen kurzen Moment der Lebensfreude, ein anzügliches Schlecken oder ein trendig-surreales Erlebnis vermitteln, sondern das Vergnügen im Magnum-Claim (Pleasure) reckt sich nach Höherem. Nach einer wunderschön inszenierten Hochzeit zweier Frauen, unter dem Pleasure-Motto „Pleasure is diverse“. Man mag das an den Haaren herbeigezogen finden, doch genau wie eine moderne lesbische Liebesheirat auch auf „bis ans Ende der Tage“ angelegt ist, soll auch der Eiscreme-Brand den Konsumentinnen und Konsumenten auf lange Sicht Genuss bringen. Der Spot entspricht übrigens in seiner liberalen Haltung nicht nur der urbanen, erwachsenen Zielgruppe, für die man das Produkt in den Achtzigern überhaupt lanciert hat (Magnum wurde explizit nie als Kinderglacé positioniert), sondern er zeigt einmal mehr, dass trotz grassierendem Rechtspopulismus immer noch 50% der Wähler mit aufgeklärtem Gedankengut umworben werden können.

*** Hornbach: Regret nothing
Wird dieser Spot auch in der Schweiz laufen? Prädestiniert dafür wäre er, spielt er doch in einer heilen Bergwelt. Derselben Umgebung, in der inzwischen auch jeder zweite Schweizer Spot sein Unwesen treibt. Nur wird die heile Welt bei Hornbach gebrochen. Zusammengebrochen.

Trotzdem sind Bergwelt und Natur wichtige Ingredienzien der Hornbach-Spots. Stehen sie doch für das – evolutionär gesehen – Urtümliche des Basteltriebs, der vor allem Männer in den Spots befällt. Auch in diesen Spot, in dem der Sohnemann zusehen muss, wie der Vati unter den Holzbalken seines zukünftigen Hauses begraben wird. Der Junge verfällt in Trauer – bis sein Weinen vom väterlichen Lachen abgelöst wird.

Papis irres Lachen über sein zerstörtes Haus und seine Gleichgültigkeit über den Verlust des Gebauten (ach, er kann ja noch einmal beginnen) machen die Brillanz des Spots aus. Wann schon wird ein psychotisch gröhlender Wahnsinniger zum Helden eines TV-Spots? Hornbach schafft es einmal mehr, Leidenschaft und Besessenheit für eine Sache zu pathologisieren und als positives Wahnsystem darzustellen.

 

©Michael Kathe

 

Show More

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.