Es vibrierte, rockte und begeisterte: das Konzert von Johnny Tienne A. am 2. September im Miller’s Studio. Der in der Schweiz noch unbekannte Jazzgeiger hatte für seinen ersten Auftritt in Zürich das legendäre Robi Weber Trio als Begleitband und Partner gewinnen können. Auf dem Programm standen Jazzstandarts wie „By, By, Blackbird“ oder Balladen von Oscar Peterson. Aber auch einfahrende Bluesnummern „für die Südkurve“, ziemlich „dirty“ interpretiert von Johnny Tienne A.. Denn der Jazzgeiger, der seine Töne einer elektronischen Geige ohne Resonanzkörper entlockte, sieht sich nicht in der Tradition der Gypsy Violin wie zum Beispiel Stephan Grappelli. Johnny will auch keine Crossover-Musik nach dem Erfolgsrezept von David Garrett neu auflegen. Johnny Tienne A. will mit seinen Tönen eine neue Fusion ins Spiel bringen.
Nach dem Konzert haben wir Johnny Tienne A. um ein Interview über seinen Stil, seine weiteren Pläne und auch über den Verlauf seiner bisherigen Karriere gebeten. Dabei hat der Stargeiger ein Geheimnis gelüftet: Hinter dem Pseudonym dieser Neuentdeckung steckt in Wahrheit Jean Etienne Aebi. Der legendäre Starwerber, Agenturgründer, Buchautor und ADC-Präsident hat nach seinem Abschied von der Werbung nicht nur ein neues Leben als Kunstmaler auf die Leinwand von Jean Etienne A. gebracht. Er hat nach über 50 Jahren auch seine Geige noch einmal aus dem Kasten geholt. Wieso? Das hat uns Johnny Tienne A. nach dem Konzert gleich selber in einem Kommentar zu Blog gebracht.
«Dazu noch etwas» O-Ton Johnny Tienne A.
Nun ja, der Musikmacher war für mich der logische zweite Schritt nach und neben dem Bildermacher. Irgendwann hatte ich ja beschlossen, nicht den für meine Lebensphase üblicheren Weg zu gehen: noch ein paar Beratungsmandate, Verwaltungsratssitze, Dozentenengagements – abgesehen davon ja bereits vorher alles gehabt. Stattdessen wollte ich nochmals etwas ganz anderes und neues machen. Wozu sich das anbot, was ich bei und wegen dem grossen Aufbruch ins Werberleben, also als gut 20-jähriger, fast ganz an den Nagel gehängt hatte. Direkt zurück zu meinen kreativen Wurzeln also. Wobei ja – wenn ein Globuli Philo erlaubt ist – Wurzeln zu Flügeln werden können. Nach der ersten grossen Einzelausstellung 2013 nun also das erste grössere Konzert.
Von „All of Me“ zu „Anthropology“
Die Violine moderte seit fast 50 Jahren in ihrem Kasten vor sich hin, bevor ich sie vor zweieinhalb Jahren daraus befreite. In der Annahme, ihr kaum noch einen einzigen sauberen Ton abgewinnen zu können. Doch siehe da, die Finger landeten meist dort, wo die Melodie im Kopf sie haben wollte. Direkt ab Blatt zu spielen, gelang zu meiner Verblüffung gar nicht schlecht. Gut auch, dass ich seinerzeit genügend Harmonielehre gebüffelt hatte. Auch wenn die Akkordstrukturen im Jazz gewaltig fordernd sind. Muss man doch zuerst mal checken, dass zum Beispiel eine Notierung Bbø ein Bflat in Moll mit verminderter Quinte und kleiner Septime meint. Wobei es gerne bis vier unterschiedliche solche Akkorde pro Takt gibt – darüber bei einem Bebop-Titel mit 200 Beats per Minute zu improvisieren also eine rasante Sache ist. Mit dem Effekt, dass ich es immer noch gerne zu hektisch angehe, also manchmal „zu früh“ bin statt gekonnt „lean back“ spiele (ein Sekundenbruchteil hinterher…).
Was ich zunächst beschloss, war, jetzt nicht gleich in progressiven, experimentellen Jazz und Eigenkompositionen einzusteigen – auch wenn man das von einem sogenannt Kreativen halt so erwartet. Nein, zuerst einmal schön die Standards, die Klassiker der Jazzliteratur, viele davon so grossartig, dass auch kein zeitgenössischer Jazzer daran vorbeikommt. Also vom Swing der späten 40er-Jahre über Bebop, Hardbop, Cool bis zum heutigen Funk. Wobei der klassische Saiten-Swing – die meisten denken ja bei Geige immer noch nur an Stephan Grappelli –, will sagen: der Gypsy-Jazz überhaupt nicht mein Ding ist. Weshalb sie dann mein Versuch, soweit möglich eher bläsermässig zu phrasieren, hart und angriffig (gesegnet seien Charlie Parker und John Coltrane), vielleicht etwas befremdet, womit ich leben kann.
Da ich es gerne eigenständig arrangiert habe, womit Hobby-Musiker nicht immer so optimal zurecht kommen, wollte ich für diesen ersten grossen Auftritt eine Profi-Band. Was für ein Glück, aber auch eine fordernde Challenge, dass mir Robi Weber dafür zusagte, den ich seit einiger Zeit wieder- und neuentdeckt habe, mit seiner eleganten Brillanz wie auch gewaltigen Power – plus vielen Stücken im Repertoire, die kaum jemand anders spielt, einige davon haben wir in die Playlist genommen. Eine völlig neue Erfahrung für mich: nichts mit regelmässigen Proben im Keller, nein, gerade mal eine im Mai und eine letzte zwei Tage vor Auftritt. Aber gigantisch: das Trio mit Robi am Piano, Kalli Gerhards am Bass und Curt Treier am Schlagzeug performed meine Head Arrangements, ohne Vorbereitung, aus dem Stand präzise auf dem Punkt. Well, real Cracks! Dazu habe ich noch meinen Freund (und früheren Geschäftspartner) Peter Goldstein eingeladen, ein enthusiastischer Tenor-Sax-Player. Dass wir dann auch ein paar Patzer abliefern, stört eigentlich nur uns selbst. Die starken, eindeutigen Reaktionen der rund 150 Gäste im Saal und danach sind jedenfalls reine Musik in unseren Ohren.
Von „Sweet Home Chicago“ bis „Straight Tom“
Rund zwei Jahre vor der Geige packte ich meine Gitarre wieder aus, auch sie seit Dezennien ungespielt, wozu mich ein Zeitungsinterview verleitete. Aus Anlass seines Rücktritts als Leiter der Forel-Kliniken wurde Thomas Meyer unter anderem gefragt, was er denn nun so vorhabe. Auf jeden Fall wolle er noch eine Bluesband für alte Männer, so seine Antwort. Welches Instrument er denn spiele? Keines, er müsste also noch eines erlernen (leicht geschummelt, weil er sich in der Jugend ja doch mit klassischem Piano herumschlug). Ich schrieb ihm, eine Bluesband wäre schon lange auch mein Wunsch, es könne jetzt halt auch eine für alte Männer sein. Andere meldeten ähnliches Interesse an.
Unvergesslich der Aufstart. Natürlich gab es kein Casting, keinerlei Qualifikationsfragen, alle, die kamen, waren auch dabei. Dafür heftigen Mailverkehr darüber, wie man das denn machen soll, eine Band zu gründen, wer einen Coach kenne, der uns da anleiten könnte und so fort. Bis es dann halt an mir lag, lauthals zu protestieren: Jeder, der sage, er hätte Blues gerne, habe doch das Bluesschema unauslöschbar im Blut. Jeder könne die 12 Takte und (bis auf Ausnahmen) drei Akkorde spielen. Also Schluss mit kruder Theorie, ran an die Instrumente, gopfetelli nomal! Womit es zur ersten Probe, dem ersten Jam kam – notabene nachdem die zwei Keyboarder am Vortag ein Introkürsli „Pianoblues für Einsteiger“ besucht hatten (wir waren anfangs zu siebent inklusive einem Susaphoner). Schnell klar war aber, dass das nicht mehr und nicht weniger als eine reine Plauschband sein würde. Jedenfalls für die einen, die jegliche Ambition oder gar Ehrgeiz zum Tabu erklärten. Weil sie ja sonst tatsächlich zwischen unseren Basement Sessions üben müssten, sowas! Andere aber waren zunehmend unzufriedener damit.
Als sich anfangs dieses Jahres die Gelegenheit anbot, die OBBB Ol’Boys Blue’Band als Special Feature in mein Jazzkonzert einzubauen – damit ein Jazz’n’Blues-Anlass – hatten wir plötzlich ein Ziel. Et voilà: Zwar immer noch plauschbasiert, gelang uns aber ganz anderes als vorher. Progressive Rhythmen, modale Momente, 8-Takte-Blues, unterschiedliche Grooves, im Stil von Missisippi-Deltablues bis zu Chicago-Cityblues. Sieben Songs für den Gig, darunter drei Eigenkompositionen plus das Monument „The Thrill is Gone“ als Züritüütsch-Version „S’Chribble isch weg“. On Stage mit Thomas am Piano, Victor Knebel an der Gitarre, Herbie Dollenmeier am Bass, Beat Aebi am Schlagzeug. Und mir inzwischen auch da an der Fiddle plus als Sänger (trotz Raucher-Kurzatem-Stimme). Ein Riesenspass nicht nur für uns, sondern ganz unüberhörbar auch für unser grossartiges Publikum.
Vom „professional Ad’Man“ zum „passionate Free Man“
Hat man in einem Metier einmal alles gemacht, was man machen kann, alles erreicht, was man erreichen kann, alles gewonnen, was man gewinnen kann, und das alles hinter sich, dann muss man nichts, rein gar nichts mehr beweisen. Ein Allgemeinplatz, aber eben ein schöner. Bleibt man dann nicht irgendwo im vertrauten Rahmen seiner angestammten Branche, eröffnen sich zusätzlich grossartige andere neue Perspektiven. Frei von jeglicher Fremdbestimmung zählen nur noch die eigenen Erwartungen, die eigenen Massstäbe, die eigenen Möglichkeiten, der Weg darf wieder zum Ziel werden. Quo vadis? Das werde ich gefragt, wenn auch selten in Latein. What’s next? Das wollten auch nach Jazz’n’Blues einige gleich wieder wissen. Ich nicht. Naheliegend sind selbstverständlich die Fortsetzungen. In der Malerei mit wieder ganz anderem als in der gezeigten Werkreihe „Undercolor Diary“ (immer noch auf jeanetiennea.ch). In der Musik mit anderen neuartigeren Klängen als den gespielten Jazz-Standards. Aber wer weiss? Es gäbe da ja auch noch ein, zwei weitere kleine schlummernde Talente.Tja. Zunächst aber ein grosser Dank an alle, die mich mit ihrem Interesse bis hierhin begleitet haben.
© Jean Etienne Aebi
© Bericht Andreas Panzeri, mit Konzertfotos von Sabine Dreher (sabinedreher.ch)