Politwerbung in (Fast-) Echtzeit.
Vor 4 Jahren waren wir überrascht über das Tempo, mit dem der neugewählte US-Präsident Donald Trump ein Agendasetting nach eigenen Gnaden durchzog. Mindestens dreimal wöchentlich ein Skandal, eine Unverschämtheit, eine Demontage der US-Demokratie. Seine Pace hat sich bis heute nicht geändert. Die Antwort seiner Gegner erschöpfte sich oft in der Skandalisierung von Betroffenheit und Schockstarre. Doch ausgerechnet liberale Republikaner wehren sich mit ungesehener Gegen-Aggression: Die Werbespots des Lincoln Project greifen Trump frontaler an, als es die Demokraten je getan haben, reagieren in ebenso atemberaubendem Tempo wie Trump twittert, und gern auch mal unter der Gürtellinie.
Vorab ein Beispiel für Politwerbung aus dem Land der total verhärteten Fronten: Am letzten Samstag (20. Juni) nahm Trump seine Grossveranstaltungen wieder auf. Doch entgegen der überschwänglichen Prognosen Trumps und seines Wahlkampfmanagers blieb das Stadion in Tulsa / Oklahoma halbleer. Nur 24 Stunden später haut bereits ein raffiniert gemachter TV- und Online-Spot gnadenlos in diese Kerbe:
Soll man zeigen, wie Trump zittert, wenn er ein Glas Wasser trinkt? Wie er völlig unkoordiniert einen Gang hinunter stolpert? Das ist wohl die Frage, die alle Gegner Trumps umtreibt. Nicht zuletzt fordert Trump ja in Triumphgesängen, Hillary Clinton einzusperren, macht sich mit tattrigen Bewegungen über Behinderte lustig, hofiert Nazi-Gruppierungen und fordert Schüsse gegen Demonstranten in amerikanischen Grossstädten.
Allen dürfte klar sein: Den US-Präsidentschaftswahlen im November wird der wohl irrwitzigste und gnadenlosteste Wahlkampf vorangehen, den je eine westliche Demokratie aushalten musste. Selbst im Angesicht der geradezu unkontrolliert wachsenden Corona-Todeszahlen, der Massenproteste gegen Polizeigewalt und Rassismus, der grassierenden Arbeitslosigkeit behauptet sich Trump dank den bretterharten ideologisch-geprägten News-Berichten und Kommentaren des grössten Fernsehsenders Fox News.
Das Lincoln Project dagegen ist eine Gruppe abtrünniger Republikaner, die sich ausgerechnet mit Werbespots noch mehr Gehör verschaffen. Ausgerechnet mit Werbespots – die üblicherweise klischiert-emotional und träge einen Kandidaten zu verehren suchen oder relativ durschaubar auf den Gegner eindreschen. Doch mit den Spots des Lincoln Projects erhält Politwerbung einen neuen Drive.
Das Lincoln Project ist eine Gruppe sogenannter Never Trumpers, also Republikanern, die dem Präsidenten unterstellen, die grossen Ideale der Republikanischen Partei (und ihres Aushängeschilds Abraham Lincoln) mit Füssen zu treten. Ihre Absicht: Mit allen Mitteln muss verhindert werden, dass Donald J. Trump kein weiteres Mal zum Präsidenten gewählt wird. Treibende Kräfte hinter dem Lincoln Project sind zum Beispiel die republikanische Politikerin Jennifer Horn, oder der Anwalt George Conway, seines Zeichens Ehemann von Kellyanne Conway (die auch heute noch in Diensten Trumps alle möglichen Stupiditäten verteidigt und der wir die berühmte Wortschöpfung «alternative facts» verdanken). Interessanter jedoch dürften jedoch Leute wie Steve Schmidt und Reed Galen sein.
Kommunikationsstratege Steven Schmidt verantwortete die Wiederwahlkampagnen von George W. Bush in 2004 und die Wiederwahlkampagne von Arnold Schwarzenegger zum Gouverneur in Kalifornien in 2006. 2008 scheiterte er im Präsidentschaftswahlkampf für John McCain an Barack Obama. Der «Lord of Outrage» (TIME-Magazin) kennt Werbung und Präsidentschaftswahlen.
Kein Wunder also, erlangte das Lincoln Project erstmals richtig grosse, nationale Aufmerksamkeit mit dem Spot «Mourning in America» («Trauern in Amerika»): Der Spot bezog sich nämlich explizit auf den vielleicht berühmtesten politischen Werbespot der US-Geschichte, auf Ronald Reagans überaus positiven Spot «Morning in America» («Morgen in Amerika», gleich ausgesprochen) aus dem Jahr 1984. Reagans Spot diente dazu, den Amerikanern vor der anstehenden Wiederwahl die ersten 4 Jahre seiner Präsidentschaft als prosperierende Zeit in Erinnerung zu rufen:
Das Resümé von Trumps ersten 4 Jahren sah bereits Anfang Mai im Angesicht seines irrationalen Handlings der Coronapandemie ganz anders aus:
Dass der Spot von Facebook mit einem zweifelhaften Sticker versehen wurde für eine angeblich nicht faktentreue Zeile («Trump bailed out Wall Street, but not Main Street»), bescherte dem Project immerhin eine Spendenspritze von 1,4 Millionen Dollar und Marc Zuckerberg einmal mehr eine Schelte dafür, dass Facebook nicht ganz so unparteiisch handelt wie der Konzern vorgibt. Selbst wenn nicht Facebook selbst, sondern eine externe Beurteilungsfirma den Spot labelte.
Trump aber hat den Spot vermutlich auf Fox News gesehen, wo er einmalig in der Werbepause der Tucker Carlson Show lief, und machte seinen 80 Millionen Twitter-Followern das Lincoln Project auf einen Schlag mit einer Hasstirade bekannt. Für Reed Galen war klar: Mit etwas Psychologie und Drastik war Trump relativ schnell reizbar.
Die Rechnung ging genauso auf, wie das Werbeagenturen ihren Kunden immer wieder gerne vorrechnen: Das Lincoln Project ist eine Gruppierung mit relativ bescheidenem Budget (z.Zt. 2,75 Mio. Dollar), doch der Spot «Mourning in America» erhielt genau die richtige Schaltung – im Sendegebiet Washingtons, bei Tucker Carlson auf Fox News – um die eine Person zu erreichen. Der Präsident sah es, erzürnte und verbreitete die unfrohe Botschaft über seinen Twitter Account.
Sowohl das Fundraising der Gruppe wuchs als direkter Effekt von Trumps Aufmerksamkeit (die sich wiederum in Berichten der grössten US-Zeitungen und -Networks niederschlug), wie auch ihre Social Media Gefolgschaft – inzwischen hat die Gruppe über 1 Million Twitter-Abonnenten und über 200’000 Youtube-Follower. «Twitter ist zwar nicht zu verwechseln mit der realen Welt», vertraute Galen jüngst der Zeitschrift «Politico» an, «doch wenn man genügend Hitze und Energie auf Twitter erzeugt, werden die Botschaften in die reale Welt geschleudert.»
Was die Spots so kontrovers und neu macht, ist vor allem das Tempo, mit denen sie auf ein politisches Ereignis reagieren. Sie sind so schnell in den (sozialen) Medien, dass sie ihre klare, aggressive Aussage zu einem Zeitpunkt machen können, an dem die öffentliche Debatte noch in vollem Gang ist (oder gerade erst angefangen hat). Letzte Woche etwa sorgte die Trump-Aussage «Slow the testing down» für Aufsehen, und konziser als jede empörte Newssendung zeigte der Spot «Truth», was dieser eine Satz überhaupt bedeutete:
Und, bitte nicht übersehen: Der Spot hat gleich noch den vielleicht klarsten, besten Claim, den man sich als Trump-Gegner wünschen kann: America or Trump.
Spots wie diese haben in der aufgeheizten Atmosphäre natürlich unglaubliche virale Qualitäten, denn sie sprechen vielen Unzufriedenen mitten in der aufgeheizten Diskussion zu einem Ereignis aus dem Herzen.
Die abgefallenen Republikaner des Lincoln Projects zielen jedoch nicht auf Trump allein: auch die Senatoren der Republikanischen Partei, die jeden Irrsinn ihres POTUS ohne Widerspruch verteidigen, bekommen ihr Fett ab. Vor allem, wenn sie sich im November als Senatoren zur Wiederwahl stellen müssen. Zuvorderst der Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell aus Kentucky, aus dem «Rich Mitch» gemacht wird:
Wer sich durch all die Spots des Lincoln Projects durchsieht, die zur Zeit im Dreitagesrhytmus erscheinen, wird eine verblüffende Vielfalt der Tonalitäten, Ansprachen, Stimmungen entdecken – und fast immer eine sehr zugespitzte Botschaft, die oft auch zu überraschen vermag. Wer diese Spots kreiert und produziert, ist nicht auszumachen – doch es würde nicht verwundern, wenn es sich dabei um eine der Top-US-Agenturen handeln würde.
In vielen der Spots wird auch in einem grösseren Kontext unmissverständlich klargestellt, wo sich eine republikanische Partei abgrenzen müsste. Wo die Grenzen des moralisch vertretbaren für die Traditionspartei eigentlich sein müssten. Zum Beispiel bei den Statuen der konföderierten Generäle (die in einem Backlash Ende 19. Jahrhundert aufgestellt wurden) oder bei der Flagge der Konföderation – Symbole also, die Mainstream werden und bei der regierenden Klasse gar keinen Widerspruch mehr auszulösen vermögen. Vergessen wir aber nicht: Abraham Lincoln war Republikaner, kein Südstaatler.
Text: Michael Kathe