Es war eine Bombe als man lesen konnte, dass Publicis sich für ein Jahr von allen Kreativ-Wettbewerben fern hält. Ein echter Kracher scheint aber «Marcel» zu sein, eine AI und Machine Learning getriebene Plattform, welche sämtliche Publicis-Mitarbeiter weltweit miteinander verbindet. Thomas Wildberger erklärt uns die Hintergründe.
Thomas Wildberger, in der Cannes-Woche hat die Publicis Gruppe bekannt gegeben, ein Jahr lang auf sämtliche Award-Einreichungen zu verzichten. Wie kam die Meldung bei dir und den Mitarbeitern in deiner Agentur an?
Zuerst einmal fand ich es echt schräg, festzustellen, dass in nahezu jeder Berichterstattung unser Verzicht auf die Award-Einreichungen die Hauptmeldung war, der Hauptgrund für den Verzicht jedoch zur Randnotiz wurde.
Hey! Das Interessante ist doch, dass Publicis Sapient mit dieser Wahnsinns-Summe, die nun eingespart und sinnvoll investiert werden kann, eine AI und Machine Learning getriebene Plattform namens «Marcel» entwickelt wird, die sämtliche Publicis-Mitarbeiter weltweit miteinander verbindet. Das ist doch eine fantastische Meldung.
Was genau kann die Plattform?
Es handelt sich um die erste professionelle Datenbank ihrer Art. In Zukunft werden die rund 80’000 Mitarbeiter der Publicis Gruppe durch eine sprachgesteuerte App Zugriff auf eine gigantische Menge an Daten haben. Marcel kann so jeden einzelnen Publicis Mitarbeiter bei der täglichen Arbeit unterstützen, indem er unter anderem Analysen, Insights und Cases aus über 200 verschiedenen Disziplinen liefert. Und es wird wohl kaum eine Herausforderung geben, die nicht schon mal irgendwo auf der Welt von einer unserer Agenturen angegangen und gelöst wurde – auf dieses wertvolle Wissen wird somit niemand mehr verzichten müssen. Vor allem nicht unsere Kunden.
Marcel wird aber noch mehr können: Er lernt schnell dazu, kennt seine Benutzer im Laufe der Zeit daher immer besser und kann so noch individuellerer helfen – etwa indem er proaktiv Lösungen vorschlägt und Spezialisten und Experten zusammenbringt, die einander nützlich sein könnten. Marcel informiert ausserdem regelmässig über unsere neuesten Arbeiten, die täglich rund um den Erdball entstehen und kann so auch zur Inspiration und Unterhaltung beitragen.
Ab wann ist Marcel einsatzbereit?
Der Launch wird nächstes Jahr Mitte Juni im Rahmen der VivaTech in Paris stattfinden.
Warum heisst die Plattform Marcel?
Siri und Alexa waren schon vergeben, daher wurde die Plattform nach unserem Gründer Marcel Bleustein-Blanchet benannt.
Die digitale Transformation hat auch bei Publicis Einzug gehalten. Werdet ihr in Zukunft nur noch über Marcel miteinander kommunizieren?
Nein. An erster Stelle steht weiterhin der persönliche Austausch. Dieser wird durch die weltweite Initiative «The Power of One» auch in Zürich gelebt und sieht vor, dass alle Firmen, die zur Publicis-Gruppe gehören, enger zusammenrücken und zusammenarbeiten.
Kommunikation, Digital, Media, Inhouse-Produktion – diese Bereiche arbeiten bei uns auf jedem Projekt von Anfang an zusammen. Zum einen physisch, weil unsere Werbe-, Digital- und Mediaagenturen und die Produktionsunit vorteilhafterweise unter einem Dach an der Stadelhoferstrasse sitzen. Zum anderen virtuell, weil Marcel diese Zusammenarbeit in der bereits erwähnten Weise massiv fördern und verstärken kann.
Hand aufs Herz: Tut es einem Kreativen nicht trotzdem weh, wenn er auf Awards verzichten muss?
Einem Kreativen sollte es weh tun, wenn seine Kreativität nie gesehen wird – oder nur ein einziges Mal, nämlich an der Wand einer Ausstellung irgendeines Wettbewerbs. Und das wird bei Publicis ja nicht der Fall sein, denn wir haben schon vor einiger Zeit den – wie ich finde – goldrichtigen Weg eingeschlagen, indem wir ausschliesslich für unsere zahlenden Kunden so grossartige Arbeit wie möglich machen. In den letzten Jahren war das übrigens gleichbedeutend mit zahlreichen Awards an Kreativ- und Effizienzwettbewerben.
Meinst du damit zum Beispiel eure neue UBS Kampagne mit den Älplern?
Genau. Eine solche Kampagne (Seiler’s Werbeblog berichtete) macht weit glücklicher als Arbeiten, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit laufen. Ich darf das sagen, denn ich habe bei Publicis am Anfang auch beides praktiziert, also Auftragsarbeiten und Goldideen, und ich kann versichern, jeder von uns, der an einer erfolgreichen Auftragsarbeit beteiligt war, war darauf stolzer als auf alles andere.
Gold ist also nicht gleich Gold?
Nein, nicht aus meiner Sicht. Mein Branchenkollege Pius Walker hat neulich einen tollen Satz gesagt: Eine Goldidee ist wie ein Slalom-Rennen, bei dem die Stangen erst nach dem Rennen eingesteckt werden.
Wer schon so viel gewonnen hat wie du, hat gut reden. Wie erklärst du deinen Nachwuchskreativen oder Bewerbern, dass es bei Publicis keine Preise zu gewinnen gibt?
Wie schon erwähnt, wir hören in ja keiner Weise auf kreativ zu sein. Wir schicken für den Moment lediglich nirgendwo unsere Arbeiten ein. Und parallel dazu investieren wir in Marcel, ein Tool, über das Twitter Mitgründer und CEO Jack Dorsey sagt «Without a doubt, Publicis Group’s Marcel platform will be a game-changer for the industry». Also dafür mal ein Jährchen aussetzen, halte ich für absolut zumutbar. Ausserdem sind wir nicht die erste Agentur, die das macht und eine Fussball-WM findet auch nur alle vier Jahre statt.
Eine solche Pause tut gut. Man wird auch mal überlegen, welche Wettbewerbe man als Agentur überhaupt noch berücksichtigen soll.
Also Cannes abschaffen?
Natürlich nicht. Aber als sie den Wettbewerb von «Festival of Advertising» in «Festival of Creativity» umbenannt haben, war die Intention klar. Cannes ist heute in grossen Teilen eine Erfindermesse, wo man sich bestenfalls berauschen und inspirieren lassen kann – und vielleicht auch sollte. Denn wir brauchen dringend gute Ideen, wie wir unsere Position als innovative Agenturen mit hohem Kundennutzen wieder stärken. Vor allem in Anbetracht des Auftretens von Firmen wie Google, Accenture, Snapchat und Co. Wir können ihnen in Cannes gerne immer noch grössere Strandabschnitte überlassen, aber auf keinen Fall das Feld.